Freitag, 18. Oktober 2013


Szenerie 6

Es ist ja irgendwie alles relativ. Für diese Erkenntnis muss man nicht Einstein sein. Ob es hier kalt im Winter ist frage ich. „Es geht“ lautet die Antwort immer. Wenn man fragt was „Es geht“ bedeutet, dann sagen sie dir „so minus 15 Grad“. Relativ kalt find ich. Wenn ich frage wie weit Harbin von Dalian entfernt ist, sagen sie „nicht so weit“. 12 Stunden mit dem Zug, wenn man nachfragt. Relativ lang find ich. Wenn im Aufzug ein Rauchenverboten-Schild klebt, dann lediglich zur Dekoration. Geraucht wird trotzdem. Wahrscheinlich auch nur so ein relativistischer Quatsch. Ähnliches Phänomen habe ich beim Straßenverkehr bemerken können. Fahrverhalten als wäre die Rot-Grün-Schwäche eine Nationalkrankheit. 
Es ist morgens. Ich bin auf dem Weg zur Arbeit. Während uns zwei Autos ohne Nummernschilder entgegenkommen, fährt mein Taxifahrer über die rote Ampel und verschafft sich mit durchgehendem Hupen auf der Kreuzung Aufmerksamkeit. Danach spuckt er aus dem Fenster, nimmt das Kurzwellenmikro in die Hand, schreit launisch irgendetwas hinein und zündet sich dann eine Zigarette an. Es gilt das Gesetz des Dschungels und mein Taxifahrer hält sich für King Kong. Nur im Panzer kannst du hier absolut sicher vorm Tod sein. 
Neulich hat mir ein Praktikant einer anderen Firma von einem Mitarbeiter erzählt. Er arbeite wohl bereits seit über 15 Jahren hier in China. Er sei des Weiteren komplett assimiliert was den Straßenverkehr angehe. Wenn er rede, dann verwende er wohl ausschließlich Schimpfwörter. Die sinntragenden Wörter könne man deshalb an einer Hand abzählen. Er war früher wohl einmal Rallyfahrer, aber hat es nicht weit bringen können. Vielleicht seiner Wortwahl verschuldet. Er verwirklicht sich tagtäglich auf den Straßen Dalians und jagt seinem längst verblassten Traum als Michael Schuhmacher in einem VW Santana hinterher. Seine Tachonadel verlässt den roten Drehzahlbereich nie, weshalb wohl die ein oder andere Zylinderkopfdichtung passé ist. Man nennt ihn ganz stumpf Super Mario. Ich bin ihm nie begegnet, aber wenn ich mir meinen Taxifahrer anschaue, dann glaub ich die Geschichte sofort. Nach 15 Jahren China kann man einen Mann, den man Super Mario nennt, in seiner Heimat nicht mehr integrieren.
Mein Taxifahrer hält vor unserem Haupttor. Er will 4 RMB mehr haben als auf dem Zähler steht. 1 € sind ca. 8,2 RMB. Ich sage nein. Er argumentiert, dass es für mich relativ wenig Geld wäre. Jaja ich weiß. Es ist alles relativ. Sogar Super Marios Fahrstil.

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